(50plusmagazin.ch – DAS MAGAZIN FÜR EIN GENUSSVOLLES LEBEN – Nr. 3 Juni/Juli 2023)
Wenn wir darüber sprechen wollen, was ältere Menschen der Gesellschaft respektive den Jüngeren schenken können, kommt man an Beda M. Stadler nicht vorbei. Der als streitbar geltende Molekularbiologe und Professor für Immunologie ist auch journalistisch tätig und hat unzählige bissige Kolumnen verfasst. Und jetzt ein Buch, das er geschrieben hat, um nicht in Vergessenheit zu geraten.
VON DÖRTE WELTI
Wir wären gerne zu Beda Stadler gefahren, allein die Zeit … So müssen wir uns mit dem Blick zufriedengeben, den er uns per Zoomcall zuteil kommen lässt. Beda Stadler sitzt an einem Schreibtisch in Zeneggen im Wallis und schaut aus seinem Fenster auf die mystische Bergwelt. Eigentlich war er mal ausgewandert und wollte nie wieder in die «Bünzlischweiz» zurückkehren, wie er gesteht. Aber nach zwei Jahren packte den gebürtigen Visper das Heimweh. Und da sitzt er nun, reist ab und zu nach Bern, um sich um seine zahlreichen Enkel zu kümmern. Auch das hat ihn dazu veranlasst, sich über das, was von einem Menschen bleibt, Gedanken zu machen.
Beda Stadler, Sie sind dann jetzt gleich 73 Jahre alt. Bringt einen die Aussicht auf Sterblichkeit dazu, zu überlegen, wie man sich in die Hirne der Nachkommen einbrennen könnte?
Ich habe zahlreiche Leute gefragt, ob sie mir etwas von Ihrem Urgrossvater erzählen können. Aber nicht nur was für Hosen er getragen hat, sondern wie er getickt hat. Und ich habe niemanden gefunden, ausser der Urgrossvater war schon eine historische Legende vielleicht, jemand, der schon in Geschichtsbüchern vorkam, dann konnte man noch was erzählen. Und da ich jetzt selbst einen Grossteil meiner Zeit schon mit Enkeln verbringe, hat mich das je länger je mehr eigentlich gewundert, was wir noch weitergeben können und was von uns bleibt. Das andere Erlebnis waren die ersten Bilder vom James-Webb-Weltraumteleskop (es kreist 1,5 Millionen Kilometer von der Erde entfernt um einen fixen Punkt und sendet von dort seit einem Jahr Fotos aus dem Universum, Anm. d. Red), das auch mir, einem Nichtastronomen, vor Augen geführt hat, wie gross das Universum wirklich ist. Das hat meine eigene Existenz nochmals kleiner gemacht.
Jetzt kann ja nicht jeder, der etwas weitergeben will, ein Buch schreiben für die Nachwelt …
Muss auch nicht jeder, man kann einfach mein Buch nehmen und es individualisieren. Mein Buch hat nach fast jedem Kapitel leere Seiten. Ich habe meine eigene Lebensphilosophie dargelegt und einen Wunsch für mich, wie ich mir die Welt vorstellen würde. Wahrscheinlich denken viele Menschen ähnlich wie ich, aber nicht alle. Ich fordere die Leute auf, gewisse Dinge in meinem Buch durchzustreichen. Und auf den leeren Seiten können sie ihre Gedanken einfügen. Man kann das Buch kaufen und verschenken, es ist günstig, ich verdiene fast nichts dran. Die Idee ist, dass man so in der eigenen Familie wenigstens mehr als Spuren im Schnee hinterlässt.
Zum Beispiel?
Ich bin Atheist, ich glaube ja eigentlich nichts. Aber ich glaube, dass ältere Menschen doch ein wenig Lebenserfahrung haben und so eine Art Filter darstellen, dass sie sagen können, was wichtig war, wenn sie zurückblicken. Als junger Mensch habe ich es gehasst, wenn all diese Ratschläge von älteren Menschen gekommen sind. Aber wenn junge Menschen realisieren, es kommt Lebensweisheit von jemandem, der nicht verbittert ist, ist das vielleicht etwas anderes. Ich habe oft gesagt, es täte mir nichts leid, was ich getan habe. Aber es würden mir ein paar Sachen leidtun, die ich nicht getan habe. Solche Sätze geben schon ein wenig zu denken. Ich glaube, dass Grosseltern eine Aufgabe haben, ein paar Lebensphilosophien weiterzugeben.
«Ich glaube, dass Grosseltern eine Aufgabe haben, ein paar Lebensphilosophien weiterzugeben.»
Wie soll man das bewerkstelligen? Die Enkel zu regelmässigen Familienessen zwingen? Wird es nicht immer schwieriger, die Familien zusammenzubringen? Man lebt nicht mehr unter einem Dach, man kann nicht mehr am täglichen Leben der Generation teilnehmen. Das ist nicht mehr so einfach.
Ich mach genau das. Ich gebe ein Vermögen aus für Familienessen. Sie sind alle wütend, dass sie nicht bezahlen dürfen. Aber ich sage, «das ist mein Privileg, ich möchte euch sehen, dafür bezahle ich.» Man kann den Kindern nicht oft genug sagen, dass man sie liebt, zum Beispiel. Das tut man viel zu wenig. Ich glaube, ich habe auch weil ich älter bin bestimmte Rechte, die ein junger Mensch nicht hat, weil ich gewisse Ambitionen auch nicht mehr habe. Aber das Wichtigste für Grosseltern ist, den ganz kleinen, den mittelalten und den älteren Kindern Ängste zu nehmen.
«Ich gebe ein Vermögen aus für Familienessen.»
Welche Ängste meinen Sie?
Angst ist die Haupttriebfeder, warum Leute überhaupt noch in die Religion eintreten. Wir Menschen brauchen Trost. Ich habe immer gesagt, «Trost kriegt man nur von anderen Menschen. Wenn man keine anderen Menschen hat, braucht man ein Haustier. Und wenn man kein Haustier hat, braucht man Religion.» Von Haustieren und Religion kriegt man es nur sehr beschränkt, den Trost. Echten Trost kriegt man nur von Mitmenschen. Und Trost heisst eigentlich Angst nehmen, Angst abbauen. Ich habe genügend medizinisches Wissen, um zu wissen, dass man mit Blasen keine Wunden heilen kann. Trotzdem habe ich bei meinen Enkeln jedes Mal, wenn sie sich irgendwo angeschlagen haben, draufgeblasen und es hat gewirkt. Das meine ich mit Angst nehmen.
Spüren Sie grössere Ängste schon bei den ganz Kleinen?
Meine Enkelin hat mir vor 14 Tagen eine schöne Zeichnung gemacht. Mit der Begründung, dass ich sie mir immer ansehen soll, wenn ich mal tot bin, weil ich dann an sie denken würde. Ich glaube, auch Kinder wollen diese Spuren hinterlassen. Wenn man nicht gläubig ist, so wie ich, weiss man, dass das Leben nach dem Tod gleich sein wird wie das Leben vor der Geburt. Das ist für mich ein sehr schöner und tröstlicher Gedanke, aber es zeigt einem mit grösster Klarheit auf, wie kurz das Leben ist. Und wenn man es an der Menschengeschichte misst, wird es sehr kurz und wenn man es an der Existenz des Weltalls misst, ist es eigentlich nicht mal mehr Zeit, es ist so kurz.
Können Sie als Molekularbiologe diese Theorie denn stützen, dass das Leben nach dem Tod gleich ist wie vor der Geburt?
Ja, da ist nichts. Man kommt aus dem Nichts. Wieso soll was sein? Vorher war nichts, warum soll nachher was sein? Es gibt keinen Grund, dass da etwas sein muss. Ich sehe nicht ein warum. Es ist ganz verrückt, dass all die Philosophen und vor allem die Theologen sich nie mit dem Gedanken auseinandergesetzt haben, was vor der Geburt war, mit all den Seelen.
Die Buddhisten schon. Die Buddhisten haben da ihre eigene Vorstellung, wo die Seele lebt, bevor sie sich einen Körper aussucht.
Die Esoteriker haben ja die Wiedergeburt und all das. Die haben sich ein Modell ausgedacht.
Was sehr tröstlich ist, wie ich finde.
Ja, aber die wollen alle in Prinzessinnen oder Königinnen wiedergeboren worden sein. Selten in Kakerlaken oder in Bakterien, die in Scheisse leben oder so. Immer in schönen Pflanzen oder in wunderbaren Tieren. Die Wiedergeburt scheint ziemlich selektiv zu sein.
Haben Sie Vorbilder? Von denen Sie gelernt haben?
Ich habe schon ein paar Idole, wie zum Beispiel Neil deGrasse Tyson, der gesagt hat, er will sich jetzt nicht mehr verbrennen lassen, wenn er mal stirbt, er will jetzt kompostiert werden. Weil er sich so viel Mühe gegeben habe, mit allem, was er gefressen hat, dass wenigstens ein Teil seiner synthetisierten Sachen noch etwas recycliert werde.
Beda M. Stadlers neues Buch «Wir zwei für die Zukunft» ist nicht wie andere Bücher. Der Autor will nicht unbedingt, dass man es selbst behält. Es ist ein Buch über den Sinn des Lebens, aber nur ein Vorschlag, wie man die Welt sehen könnte. Stadler fordert dazu auf, Passagen, denen man nicht zustimmen kann, zu streichen, eigene Gedanken hin – zu zufügen und das Buch dann sozusagen als eigene Interpretation weiterzuschenken. Es erspart nicht unbedingt eine eigene Biografie, regt aber an, sich Gedanken zu machen über das, was bleibt.
Cameo Verlag, ISBN 978-3-03951-023-8, CHF 22.90