Zum Inhalt springen

Wie Sex, Drogen und Rock ‘n‘ Roll zu Öko, Müsli und Grüntee wurde

(Achgut.com)

Die gleichen Leute, die einst für Sex, Rock und Freiheit auf die Barrikaden stiegen, predigen heute eine neue Unfreiheit im Namen von Öko, Müsli und Ayurveda-Tee. Wie konnte es so weit kommen?

Eines vorweg: Ich will nicht über unsere Jugend lamentieren. Es geht mir auch nicht um die alten Achtundsechziger, die heute in Parteien, Banken und Ämtern als Kuschelteddys herumsitzen. Auf den ersten Blick scheint es, dass diese ehemaligen Protestanten die Gesellschaft derart umgekrempelt haben, dass es ihnen heute gefällt. Zumindest werfen sie keine Steine mehr. Wer in den späten vierziger und den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts geboren wurde, hat allerdings einen Zeitgeist durchlebt, der prägender war als der politisierende Teil der achtundsechziger Bewegung.

Mich dünkt, unsere Welt sieht gar nicht so aus, wie die Jugend sich das damals ausmalte. Die Insignien dieser Zeit sind aus dem Strassenbild verschwunden: Military-Look mit runder Nickelbrille, Mao-Bibeln, Twisthosen sind out, überlebt hat als modisches Accessoire das Konterfei des Che Guevara, dieses falschen Hunds — und die Musik. Der einstige Monopol-Radiosender, der damals fast ausschliesslich Ländler spielte, bringt heute Rock, der ¬allerdings wie wir zum Oldie verkommen ist. Damals konnte sich niemand dieser Musik entziehen, alle haben daran teilgenommen. Fast jede Woche ein neuer Welthit. Rock ‚n‘ Roll war nicht nur der Protest einer Elite. Selbst wenn man «nur» zu den Beatles-Fans gehörte und kein harter Stones-Anhänger war, ¬träumte man von einer unbändigen Zukunft: Sex, Drogen, der unbegrenzten Freiheit – eben Rock ‚n‘ Roll. Was ist daraus geworden?

Öko, Müsli und Grüntee haben sex, drugs and rock ‚n‘ roll verdrängt. Aus einst harten Kerlen sind Warmduscher geworden, die Shampoo mit Vitaminen benutzen. Nachdem man die Zigaretten zu Mordinstrumenten gemacht hat, ist jetzt der Alkohol dran. Man braucht kein Hellseher zu sein, um zu wissen, dass nächstens die Alkoholsteuer heraufgesetzt wird. Die einstigen Freiheitsträumer sind heute Wegbereiter des Verbotsstaates. Für Sozialpädagogen müsste diese geistige Umkehr eine experimentelle Fundgrube sein. Wie erziehe ich mein Kind, damit es als Erwachsener völlig verkehrt herauskommt? Oder waren wir, die Erfinder des Unisex, vielleicht gar nicht so uniformiert, wie einem das heute vorkommt? Dass der Sex weg ist, hat für einen alten Rocker biologische Gründe. Drogen waren der leichte Stoff in Massen, den man heute auf die gleiche Stufe setzt wie die harten Drogen, an welche die Mehrzahl von uns gar nie gekommen ist.

Wer vor 1980 geboren wurde, hat eine Erziehung genossen, die der heutigen Pampers-Generation als eine Ansammlung von strafbaren Delikten vorkommen muss. Unser Spielzeug, das wir selbstverständlich in den Mund nahmen, war mit Blei- und Cadmium-Farben angestrichen. Kindersicherungen an Steckdosen, Medikamenten und Chemikalien waren unbekannt. Mohrenköpfe und Negerküsse waren politisch korrekte Leckereien. Wir kannten weder Kindersitz, Sicherheitsgurt noch Airbag. Ein Trottinett hatte keine Bremsen, und Formel-1-Fahrer waren die Einzigen, die einen Helm trugen. Die Velos hatten unter dem Sattel kleine Taschen mit Flickzeug, damit man einen Platten selber reparieren konnte. Es gab auch Dinge, die man heute noch tun dürfte, die aber keiner mehr tut.

Rock ‚n‘ Roll war das Ausbrechen aus einer zu engen Gesellschaft, einer Ordnung mit zu vielen Verboten. Nichts machte uns wütender als die Gebote unserer Eltern, Lehrer und Pfaffen. Sind mit Elvis und John Lennon auch die einstigen Ideale gestorben? Waren es vielleicht gar nicht die alten Rocker, die den neuen Kindermädchen-Staat installierten? Wer sind dann die Verräter der einstigen Ideologie? Etwa doch die privilegierten Achtundsechziger, die es quasi in der Minorität geschafft haben, alles in Grund und Boden zu reiten, was einem einst wertvoll erschien?

Eigentlich wäre dies ein Stoff für Verschwörungstheoretiker. Zumindest wäre es eine interessante Studie für das Bundesamt für Gesundheit (BAG): Welchen Einflüssen muss man in der Jugend ausgesetzt sein, damit man später zu einem treuen Staatsdiener wird? Kommt -eine normale Grippe daher, zeigt ¬einem inzwischen Väterchen Staat, wie man die Hände waschen soll. Es ist erstaunlich: All die Verbote der letzten Jahre wurden von einer Bevölkerung angenommen, die in der Mehrzahl den Freiheitstönen der sechziger Jahre folgte und nun eine Art totalitären Staat der unzähligen Regeln und Gebote anbetet.

Die damalige Sinnsuche, all you need is love, scheint abgeschlossen. Zugegeben, es gab kurz eine Übergangsphase, in der die Strassen von Joggern verseucht waren. Vielleicht, weil man herausfand, dass Jogger effektiv endogen abhängige Drogensüchtige sind. Inzwischen ¬haben die Vita-Parcours, mit denen die Schweiz zugepflastert wurde, ausgedient. Der Fitnesswahn hat sich zum Gesundheitswahn gewandelt. Eltern, die einst Wasser direkt ab dem Wasserhahn tranken, haben Kinder, die ständig von einer Wasserflasche begleitet werden. Das BAG gibt heute den Jungen Tipps, wie sie sich ernähren sollen: 0,1 Prozent der Jugendlichen befolgen diese Ratschläge. Ein kleiner Lichtblick. Vielleicht besinnt sich die jüngste Generation auf die Werte der Urgrossväter. Die Rocker¬generation war nämlich nicht dick, und Kalorien waren ein Gütesiegel.

In einer anständigen Beiz wurde bei Bedarf nachgeschöpft. Nahrungsmittel hatten keinen «Data»-Stempel und die Cornflakes keine Vitamine. Die Fondue-light-Versionen waren noch nicht entwickelt, man tunkte in Käse oder dampfendes Öl. Die Pommes hatten immer braune knusprige Enden, da noch kein Bundesamt auf die Idee gekommen war, die Temperaturen aller öffentlichen Fritteusen nach unten zu befehligen. Von Fett triefendes Fasnachtsgebäck wurde zum Dessert gegessen, da noch niemand der Ansicht war, es gebe gesundes und ungesundes Essen. In diesem speziellen Fall kenne ich sogar den Altachtundsechziger, der im BAG tätig ist und vor noch nicht allzulanger Zeit eine Anweisung herausgab, wie viele Zimtsterne ein Kind zu Weihnachten verdrücken darf.

Früher soff man, es soll aber heute mehr Alkoholiker geben als damals. Neuerdings wollen Parlamentarier die Promillegrenze für Alkohol auf 0,3 senken. Und sowieso, falls Jugendliche randalieren, muss der Alkohol schuld sein. Demzufolge ist klar, dass der Alkoholausschank abends verboten werden muss. Warum kommt eigentlich niemandem in den Sinn, dass jugendliches Fehlverhalten in der Erziehung liegen könnte und nicht im Geist der Flasche? Es ist erschreckend, wie sich die einstige Protestjugend, die sich gegen Ordnung und Gesetz wehrte, immer neue Gesetze und Verordnungen ausdenkt, um die Jugend zu erziehen. Als ob die Jugendbewegten von einst zu feige wären, dies selber zu tun, und nun alle erzieherischen Massnahmen dem Staat überbürden wollten.

Wahrscheinlich tue ich den Rockern unrecht. Vielleicht wurden wir ja von Trittbrettfahrern, einer damals unbedeutenden Gruppe von Spinnern, ausgetrickst. Die Hippies waren die Esoteriker in der Beat- und Rock-Szene, ihnen könnte man allenfalls die Schuld in die Schuhe schieben. Sie liebten die Mutter Erde und begannen, Walfische und dann die Welt zu retten. Inzwischen haben sich die NGOs zu Öko-Multis entwickelt mit erstaunlichen Bilanzen. Aus der einstigen Flower-Power entwickelte sich die grüne Bewegung, wobei es nur die Sonnenblume geschafft hat, als Emblem breit akzeptiert zu werden. Mohnblumen, Hopfen oder Kirschblüten werden wahrscheinlich bald zusammen mit nicht «Gender-konformen» Bezeichnungen aus den Kinderbüchern verschwinden.

Die Sandalen tragenden Hippies waren nicht die ersten Körnlipicker, sie haben dem ¬allem bloss eine neue Spiritualität verpasst. Dank ihnen haben die miefigen Reformhäuser und Drittweltläden Lebensmittel erfunden, in denen keine zusätzlich essbaren Werte ausser quasireligiösem Glauben enthalten sind. Bio wurde geboren mit einem grünen, von der Biologie völlig losgelösten Image. Bio hat in der Zwischenzeit fast die Unfehlbarkeit des Papstes erreicht. Der Glaube an Bio wird selbst dann nicht erschüttert, wenn in Deutschland mehr als dreissig Menschen daran sterben.

Von der freien Liebe und von Drogen, die Spass, aber nicht kaputtmachen, ist kaum was übriggeblieben. Die ganze Farbenpracht der Flower-Power-Generation reduziert sich wahrscheinlich auf Rot, wenn die Träumer von einst im Mobility-Auto sitzen. Die anti-autoritäre Erziehung sowie die unhygienischen Verhältnisse in Woodstock müssen die Hippies wahrscheinlich derart traumatisiert haben, dass dieser belächelte Menschentyp unseren Staat aus lauter Rache unterwanderte.

Ayurveda heisst der neue Glaube an die Gesundheit. Die Hippies sind zu alt geworden für all you need is love und wollen wenigstens gesund leben, zumindest gesund sterben. Ihnen verdanken wir es, dass wir heute in den Regalen der Grossverteiler praktisch nur noch Bioprodukte finden. Diese einstigen Aussteiger sind nun die Einsteiger und Trendsetter. Inzwischen wird jeder verlotterte Biobetrieb als die neue agronomische Zukunft betrachtet. Ja, die Zeiten haben sich geändert: Unsere da¬malige grösste Angst, eine ungewollte Schwangerschaft, mutierte zur Angst vor der Gentechnik. Diese Angst beschränkt sich, wie könnte es anders sein, auf die Blümchen und nicht auf die Gentechnik in der Medizin.

Besonders erschreckend wird es, wenn man betrachtet, was die neuen Bünzlis für sich selber wollen. Sie essen Jogurts mit Aloe-vera-¬Geschmack, obwohl sie wissen müssten, dass diese Sukkulente keinen Geschmack hat. Food-Designer haben einen auf Vanille basierenden Geschmack kreiert, der Kindheitserinnerungen wachrufen soll. Man will schliesslich keinen Spass mehr, sondern mehr, ja sehr viel mehr Gesundheit. Die Gesundheit scheint das einzige nach oben offene System zu sein, von dem man nicht genügend kriegen kann.

Daher wurden die Krankenkassen zum Gesundheitssystem. Unsere Gesellschaft wurde von Leuten umgekrempelt, die einst «Nieder mit den Alpen, freie Sicht aufs Mittelmeer» skandierten oder auf die Frage: «Was wollt ihr eigentlich?», sangen: «Viele, viele bunte Smarties». Wie erfolgreich sie waren, sieht man dar¬an, welche Medikamente heute besonders gefragt sind. Primär werden Medikamente ohne Nebenwirkung verlangt. Das erstaunt nicht, wenn man seinen Kaffee mit Zimt, Haselnuss oder Vanille im «Hard Rock Cafe» einnimmt. Genauso sicher, wie man in einem «Hard Rock Cafe» keine Rocker findet, hat es in jedem Medikament mit Wirkung auch Nebenwirkungen.

Wie wenig die Schweiz heute rockt, kann man damit belegen, dass eine Mehrheit die Alternativmedizin in der Verfassung wollte. Damit sind wir das einzige Volk auf Erden, welches sich durch den Staat die Legitimierung gibt, Medikamente ohne jeglichen Wirkstoff und ohne Wirkung einzunehmen. Dass wir, eine Generation mit einer derart prächtigen Jugend, einmal in einer derart surrealen Welt landen würden, konnte sich wohl niemand ausdenken.


Zuerst erschienen in Die Weltwoche, Ausgabe 15/2013 | Donnerstag, 11. April 2013

Quelle: https://www.achgut.com/artikel/wie_sex_drogen_und_rock_n_roll_zu_oeko_muesli_und_gruentee_wurde

Schlagwörter:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert