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Eine neue Initiative braucht das Land

(NZZ am Sonntag – Meinungen – 23. Oktober 2005, Seite 22)

Versuch, mit einer Kolumne eine Krankenversicherungs-Initiative zu starten: die «Retro-Initiative»


Beda M. Stadler

Der Leidensdruck ist gross genug und die Idee genial. Es geht um die Lancierung einer Krankenkasseninitiative, nennen wir sie die «Retro-Initiative». Worum geht es? Die Krankenkasse soll nur noch bezahlen, falls jemand schwer krank ist. Ärztliche Leistungen für Wehwehchen werden aus der Grundversicherung gekippt. Dies umfasst einen beträchtlichen Teil der ambulanten Medizin. Chronisch Kranke sollen davon nicht betroffen sein. Patienten, die wegen einer Erkältung oder eines ähnlichen Bobos zum Arzt gehen, sollen hingegen das Portemonnaie selber zücken. Retro-Initiative also, weil es wieder wie früher werden soll, als die Hausmittelchen in Gebrauch waren.

Die Allgemeinpraktiker wird’s freuen. Solange die Krankenkasse nicht in Anspruch genommen wird, dürfen die Leute fortan so oft zum Arzt gehen, wie sie wollen. Mancher Hypochonder wird lieber auf die Ferien verzichten und dafür auf einen Schwatz beim Arzt vorbeischauen. Einige Ärzte könnten gar ihre Praxen zu Wellnesszentren oder Luxusetablissements umbauen, wie sie bei Zahnärzten zu finden sind. Das neu erstrittene Recht, Werbung zu treiben, ist dann sinnvoll. Der eine wird vielleicht sogar einen separaten Streichelzoo anbieten, ein anderer eröffnet eine Dépendance in einem Hallenbad. Für all diese Leistungen wird es aber keinen Tarmed-Tarif mehr geben.

Die Retro-Initiative wird die Abgabe von Medikamenten durch Ärzte in allen Kantonen ermöglichen; sie wird im Gegenzug viele Medikamente aus der derzeitigen Rezeptpflicht nehmen und diese Verantwortung den Apothekern übergeben. Damit wäre den Ärzten und den Apothekern geholfen. Da der Patient für Lappalien selber bezahlt, kann er zwischen Originalmedikament und Generikum wählen, so wie wir heute zwischen normalem oder Biogemüse wählen.

Unsere älteren Mitbürger konsumieren wesentlich mehr Medikamente als der Durchschnitt. Da die Schweizer über 60 aber auch ein grösseres Vermögen haben und zu mehr als einem Drittel gar nicht krank sind, werden sie sicher so solidarisch sein und ihre Quasi-Anti-Aging-Präparate selber berappen. Somit könnte dank der Retro-Initiative die unpopuläre Anhebung der Krankenkassenprämien für ältere Menschen noch einmal hinausgeschoben werden.

Die laufende Initiative «Ja zur Komplementärmedizin» wird durch die Retro-Initiative unterlaufen und vom Bundesrat als Gegenvorschlag benutzt werden. Die Retro-Initiative wird nämlich nur Medikamente zulassen, die sich als wirksam erwiesen haben. Die Alternativmediziner dürfen sich dafür nachher in der ganzen Schweiz aufführen, als ob sie im Kanton Appenzell wären. Ihre Kunden, seien dies Hunde oder Menschen, zahlen Cash. Für die Alternativmediziner wird die Initiative zur eigentlichen Chance. Sie können sich in Esoterikzentren zusammentun, wo man gleichzeitig Schilfmatten gegen Wasseradern, Wünschelruten, Pendel und Tarotkarten im Discounter kaufen kann. Aromatherapie-Steine, Räucherstäbchen und Bachblüten-Notfalltropfen zum Spezialpreis werden die Leute in Scharen anlocken. Retro heisst die Initiative auch, weil der Arzt rückwirkend entscheiden muss, ob der Besuch bei ihm gerechtfertigt war! Wie bereits heute werden die Krankenkassen ein Auge auf ihn haben. Leitet er einen Patienten an eine Klinik weiter und stellt sich ein Verdacht als Lappalie heraus, zahlt der Patient. Für die Bescheinigung «noch mal Glück gehabt» zahlt man in Zukunft selber. Der Gratis-Check-up, dank dem man in den Ferien unbesorgt das Geld verjubeln kann, wird der Vergangenheit angehören. Die Fortune- Cookies beim Chinesen sind schliesslich auch nicht gratis.

Solange die Krankenkasse nicht in Anspruch genommen wird, dürfen die Leute so oft zum Arzt gehen, wie sie wollen.

Die Parteien werden die Retro- Initiative auf verschiedene Art unterstützen. Die SVP wird dahinterstehen, weil endlich ein Instrument gegen Simulanten gefunden ist. Die SP wird dafür sein, weil ihre Einheitskrankenkasseninitiative die Ärzte ohnehin besser kontrollieren will. Die FDP wird kaum überredet werden müssen, liest sich doch die Retro-Initiative wie das eigene Parteiprogramm: mehr Eigenverantwortung, mehr Markt, weniger Kosten. Die CVP wird gespalten sein. Eine Mehrheit wird es allerdings begrüssen, endlich das Gebet wieder im Heilungsprozess zu finden, ohne dass dafür Tarifpunkte gefunden werden müssen.

Der Initiativtext und das Initiativkomitee stehen noch nicht. Es ist zu hoffen, dass Hans Heinrich Brunner vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) mithelfen wird. Schliesslich hat er versprochen, die ganze Wellness aus der Grundversorgung zu kippen. Thomas Held, der Geschäftsführer von Avenir-Suisse, muss von Amtes wegen dabei sein. Noch nie ging es schliesslich um so viel Zukunft. Die Gesellschaft wird sich langsam ändern. Wir werden peu à peu das Gesundheitssystem wieder unter dem Solidaritätsprinzip verstehen. Die Leute, die meinen, bloss weil sie in die Krankenkasse einbezahlt hätten, dürften sie alles wieder zurückholen, müssten sich dazu selber eine Zehe abhacken. Wir werden derart viel Geld sparen, dass sogar wieder Spitzenmedizin drinliegen wird.

Die Idee zur Retro-Initiative ist echt genial. Leider stammt sie nicht von mir, sondern von einem Arzt und Freund. Ihm zuliebe diese Kolumne in der Hoffnung, ein Streit bricht darüber aus, wer das Initiativkomitee gründen darf. Vielleicht sind aber in der Schweiz geniale Ideen gar nicht mehr gefragt, weil wir lieber jedes Jahr höhere Prämien zahlen.


Beda M. Stadler ist Direktor des Instituts für Immunologie und Professor für Immunologie an der Universität Bern.

NZZ am Sonntag, 23. Oktober 2005, Seite 22

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