(Persoenlich.com)
Wir brauchen in der Schweiz viel mehr Geld, damit wir uns Forscher leisten können, die nicht zielgerichtet an ein Produkt denken, sondern bloss einer Fragestellung nachgehen. Daneben bräuchten wir eine Gruppe von Forschern, welche die Resultate umsetzen. Das fordert Professor Beda Stadler, Direktor am Institut für Immunologie der Universität Bern und Leiter des Bereichs Life Sciences der KTI, der Förderagentur für Innovation des Bundes.
Interview: Oliver Prange
Was bedeutet Mut oder Leichtsinn für einen Forscher?
“Wenn ich an mein Gebiet denke, Biotechnologie und Forschung, da habe ich Kollegen erlebt, die mutig von ihrer akademischen Karriere abgesprungen sind und leichtsinnig in eine Firma gingen. Das war Leichtsinn und Mut zugleich. Eine Kollegin ging zum Beispiel zu der damals unbekannten Firma Genentech. Sie hatte einen miserablen Lohn, erhielt aber zusätzlich zum Lohn Aktienoptionen, die sie in einer Kartonschachtel aufbewahrte und vergessen hatte. Als sich Roche für die Firma interessierte, schaute sie zufällig in die Kartonschachtel hinein und rechnete zusammen. Sie fiel beinahe in Ohnmacht, denn sie war plötzlich mehrfache Millionärin. Das ist ein Beispiel für Leute, die damals Mut hatten und Leichtsinn brauchten, denn es gab kein Versprechen für eine soziale Sicherheit. Heute ist es schwieriger. In der Biotechnologie reichen gute Ideen nicht mehr – die Start-up-Firmen finden kein Geld mehr ohne Produkte.”
Die Biotech-Blase ist zur gleichen Zeit geplatzt wie die IT-Blase.
“Ein bisschen später. Die Ersten, die es gemerkt haben, waren jene, die den Mut hatten, eine Firma zu gründen, und dann realisieren mussten, dass zwar Geld vorhanden ist, aber kaum für Firmen in der Schweiz. Die Venture-Kapitalisten hatten ihre Hausaufgaben gemacht. Sie eigneten sich Know-how an und glaubten nicht mehr alles. Wer etwas Bescheidenes unternehmen wollte, kam nicht mehr zu Geld. Da konnte er noch so viel Mut haben. Die Mutigen – da gehört wohl Cytos dazu – bekamen sehr viel Geld, falls sich Produkte abzeichneten. Es gab einen Paradigmenwechsel in der Biotechnologie. Der hat sich nun auch bei der KTI, der Förderagentur für Innovation beim Bund, vollzogen. Früher förderte der Bund die Biotechnologie, wenn gute Leute und gute Ideen zusammenkamen. Heute bekommen nur noch jene Leute Geld, bei denen sich ein Produkt abzeichnet. An den Universitäten merken wir langsam, dass wir die Leute in den Life Sciences nie für das Business ausgebildet haben. Solche Leute sind sehr selten zu finden.”
Es gibt viele Leute mit Ideen, aber sie bräuchten auch Leute, die das Geschäft an die Hand nehmen könnten?
“Wenn heute ein Biologe mit einer guten Idee kommt, ist er wohl beraten, wenn er jemanden zur Seite hat, der etwas vom Business versteht, jemand, der ihm auf die Finger schaut. Heute kommen viele Firmengründer aus der akademischen Forschung, aber ohne Ausbildung im kaufmännischen Sinn.”
Wozu braucht man denn so viel Geld?
“Wir brauchen zwei Arten von Unterstützung, und von beiden Arten haben wir zu wenig in der Schweiz. Einerseits für die angewandte Forschung, aber auch für die Grundlagenforschung. Diese künstliche Aufteilung ist aber eigentlich eine semantische Katastrophe, unter der wir heute leiden. Die Unterscheidung gibt es in der Forschung nämlich gar nicht. Die Grundlagenforscher haben immer auch angewandte Forschung betrieben. Louis Pasteur, der das Pasteurisieren erfunden hat, hatte gleichzeitig das erste Patent auf ein Lebewesen. Edison hat nicht nur die Glühbirne erfunden, er hat sie auch zur Marktreife entwickelt.”
Welche Ziele könnte man denn überhaupt setzen?
“Wir bräuchten in der Schweiz viel mehr Geld, damit wir uns Forscher leisten können, die nicht zielgerichtet an ein Produkt denken, sondern bloss einer Fragestellung nachgehen. Daneben bräuchten wir eine zweite Gruppe von Forschern, die Freude daran haben, die Resultate umzusetzen. Die ersten sind sozusagen das Gold im Boden und die anderen graben es aus. Beide zusammen ermöglichen erst Innovation. Dieses Prinzip versteht man in den Life Sciences noch nicht. Der Forscher meint, wenn er etwas erfunden hat, sei die Sache erledigt. Eine Erfindung hat an und für sich keinen Wert. Erst die Umsetzung bringt den Mehrwert.”
War das Vertrauen in die Forschung in der Schweiz denn je vorhanden?
“Die Mentalität in der Schweiz war früher ganz anders. Nehmen Sie das Beispiel der Toblerone. Das Rezept war eine Raubkopie. Die Schokolade wurde in Italien erfunden, hiess dort Torrone. Man kann sie heute noch bei Nannini in Siena kaufen. Der Herr Tobler hat seinen Namen mit dieser Idee fusioniert und führte gleichzeitig frühindustrielle Arbeitsmethoden ein. Dazu kam ein neues Marketing, mit der eigenständigen Form der Schokolade. Alles zusammengenommen war eine grosse Innovation und führte zu einem Markterfolg.”
Diese Leute wurden aber nicht vom Staat gefördert. Sie hatten das Unternehmertum im Blut und wollten eine Idee verwirklichen.
“Das ist ein wichtiger Punkt. Die KTI möchte dem Entrepreneur eine Starthilfe geben. Wie damals einer unbedeutenden, kleinen Firma namens Logitech. Deren Chef Daniel Borel hatte vom KTI 120 000 Franken als Starthilfe bekommen. Ohne diese 120 000 Franken gäbe es heute keine Logitech.”
Es gibt etliche Schweizer Venture-Kapitalisten, und sie setzen viel Geld ein – aber meist in Amerika. Bräuchte es da nicht eine Institution, um die Leute zu suchen, die in der Lage wären, irgend etwas beizutragen?
“Der Staat kann nur beschränkt Wirtschaftsförderer sein. Die KTI gibt kein Seed-Money. Wenn wir aber in der Start-up-Phase einem jungen Team, das alles riskiert, ein Coaching geben und ein Label verleihen, dann sind die identifizierbar. Viele Start-ups, welche Schweizer Wirtschaftspreise abrahmen, hatten das KTILabel.”
Verschiebt sich die Chemie langsam in Richtung Biotechnologie?
“Nein, der Trend geht bereits wieder zurück. Die Biotechnologie muss einfacher werden. Biotech-Produkte sind im Moment noch zu kompliziert. Ein neues Produkt in der Biotechnologie ist immer ein ‘grünes’ Produkt, es kommt in unserem Körper natürlicherweise vor. Es ist somit genauso kompliziert wie in uns selbst und entsprechend teuer in der Herstellung. Mit klassischer Chemie vereinfacht, würde die Produktion billiger.”
Wenn jemand mit einer Idee, einem Projekt auf Sie zukommt, wie können Sie dann beurteilen, ob die Sache tragfähig ist?
“Früher dachte ich, das könne man rein wissenschaftlich angehen. Stimmt nicht, man braucht auch den Entrepreneur, der das umsetzt. Natürlich muss die Wissenschaft stimmen. Man kann nicht etwas verkaufen, das den Leuten nichts bringt. Es sei denn, man bewege sich im Bereich der Esoterik. Da ist alles möglich. Da kann man blankes Wasser für 3000 Franken pro Liter verkaufen, das nachweislich keinen Wirkstoff enthält.”
Nützt das tatsächlich nichts? Wozu dann die langen Ausbildungsgänge in diesem Bereich?
“Ja und? Es gibt mehrjährige Ausbildungen für das Sterndeuten. Bis jetzt haben wir von der Wissenschaft als Grundlage für neue Produkte gesprochen. Daneben gibt es eine starke Strömung in der Gesellschaft, die völlig losgelöst von der Wissenschaft ist. Das meiste kann man der Esoterik zuordnen. Unter dieser Strömung laufen religiöse Überzeugungen, wie etwa der Glaube an Biogemüse. Es gibt weltweit keine einzige Studie, die belegt, dass Biogemüse gesünder, sicherer, ökologischer ist. Trotzdem werben alle damit. Wenn das Marketing gut und die Idee dumm genug ist, kann das zu einem grossen Erfolg führen. So müssen zum Beispiel die Homöopathen nicht beweisen, dass ihre Globuli funktionieren. Vor fünf Jahren erhielten sie von Bundesrätin Dreyfuss Geld, um ihre Verfahren wissenschaftlich zu untermauern. Nach 200 Jahren Praxis waren sie aber nicht im Stande, innerhalb von fünf Jahren den Beweis zu erbringen. Aber das Volk ist auf ihrer Seite, und das ist ein Problem für die Wissenschaft und unsere Kultur, die auf Erkenntnis beruht.”
Gehört die Meditation für Sie auch in den Bereich der Scharlatanerie?
“Meditation ist etwas anderes, auch die Hypnose. Das betrifft Bereiche, in denen man zumindest etwas messen kann. Meditation ist ein normales menschliches Verhalten, das jeder von uns mehr oder weniger stark anwendet – wobei manche Leute auch da die Grenzen zur Esoterik überschreiten.”
Aura, Charisma. Wie entsteht das? Wenn Gerhard Schröder irgendwo erscheint, hat er eine ungeheure Ausstrahlung. Geschieht das kraft seines Amtes oder kraft seiner Person?
“Vieles kann man in diesem Bereich natürlich noch nicht erklären. Hätte er aber vier Landtagswahlen verloren, bevor er Kanzler wurde, dann hätte er trotz aller Ausstrahlung das Image eines Losers. Als langjähriger Bundeskanzler hat er einen Bonus. Bei unseren Bundesräten ist Adolf Ogi das beste Beispiel. Den hat man jahrelang zum Kasper gestempelt, bis die öffentliche Meinung kippte. Die Leute und die Medien begannen, ihn zu lieben und seine Ausstrahlung wahrzunehmen. Ogi hat die beneidenswerte Fähigkeit, sich jeden Namen zu merken. Wenn man diese Fähigkeit sozusagen nachbauen könnte, dann wären wir wieder bei der Forschung, und zwar bei einem neuen Grenzgebiet. Schon heute geht es nämlich darum, neue Medikamente, Nootropika, zu entwickeln, die zu einer Verbesserung des kognitiven Leistungsvermögens führen, oder solche welche das Vertrauen erhöhen.”
Wäre das nun eine Droge, ein Medikament oder ein leichtes Genussmittel wie Kaffee?
“Eine gute Frage. Diese neue Art von Medikamenten ist schwierig einzustufen. Wir produzieren in unserem Körper solche Stoffe auch selber. Etwa Leistungssportler, die an ihre Schmerzgrenzen gehen, produzieren dank des Gens ‘Proopiomelanocortin’, opiat- ähnliche, körpereigene Schmerzhemmer, die so genannten Endorphine. Ihre Wirkung reicht von wohltuender Entspannung bis hin zu einem regelrechten Rauschzustand. Aber auch beim Inhalieren von Zigarettenrauch werden körpereigene Glückshormone freigesetzt. Wenn man einem volltrainierten Jogger das Joggen für eine Woche verbietet, bekommt er Entzugserscheinungen. Viele unserer Emotionen sind also gesteuert.”
Wie steht denn Alkohol in diesem Zusammenhang?
“Alkohol hat andere Wirkungen. Aufmerksamkeit, Konzentrationsfähigkeit und die Sinnesleistungen werden geschwächt, dadurch werden wir mutig, sorglos. Zum Alkoholiker wird man allerdings nur, wenn man bereits Probleme hat. Heroin war einst ein normales Schmerzmittel. Auf der Packung war eine Heldin, eine Heroin, abgebildet. Darum heisst das heute noch so. Heroin war ein wunderbares Schmerzmittel, das eigentlich noch heute auf dem Markt sein müsste. Und es macht, vernünftig peroral dosiert und gegen Schmerzen angewendet, fast nicht süchtig.”
Man sagt, Drogen veränderten das Bewusstsein. Was ist das eigentlich: Bewusstsein oder Seele?
“Sobald man das Wort Seele braucht, wird das Bewusstsein religiös eingefärbt. Auf diese Sphäre hat die Wissenschaft keinen Zugriff. Schliesslich darf man sich streiten, ob Forschung im Zusammenhang mit der Seele eine Wissenschaft im Sinne der Naturwissenschaft ist. Solange wir Universitäten haben, an denen wir Theologen ausbilden, haben wir mit der Wissenschaftlichkeit sowieso ein Problem.”
Bewusstsein findet doch statt, auch wenn wir nicht wissen, wie es funktioniert.
“Selbst wenn ein Frosch ein Bewusstsein hat, ist es gar nicht so einfach, das menschliche Bewusstsein zu definieren. Vor ein paar Wochen hat in England ein Kongress stattgefunden, bei dem es um ein Nervensystem bei Pflanzen ging. Wahrscheinlich merkt ein Salatkopf oder ein Rüebli nämlich, wenn man reinbeisst. Somit stellt sich die Frage, ob ein Rüebli Bewusstsein hat. Die Vegetarier werden bald einen neuen Gewissenskonflikt haben!”
Versuchen wir einmal, das auf die Wirtschaft anzuwenden. Leute, die in einer Firma aufsteigen, verändern im Laufe der Zeit ihr Verhalten, je nachdem, in welcher Branche sie tätig sind. Welche Bewusstseinsveränderung findet statt, wenn man mehr Verantwortung trägt?
“Die schrecklichste Bewusstseinsveränderung beobachte ich bei Kollegen, die das Labor hinter sich gelassen haben. Sie kommen sogleich mit der Idee der Programmforschung. Sie fordern Vierjahresprogramme und Schwerpunkte. Sie wollen plötzlich Macht ausüben und den anderen vorschreiben, was sie forschen sollen. Dabei sind sie Forschungsmanager geworden, weil ihnen die Forschung verleidet ist. Das gilt gleichermassen für ehemalige ETH-Direktoren oder NovartisChefs. Letztlich kann dieses Verhalten ein massiver Eingriff in die Wirtschaft, ja in die Gesellschaft sein. Programmforschung heisst am Beispiel eines Pharmamultis: Eine Firma forscht nur noch auf diesem oder jenem Bereich. Die Forschungsfreiheit und damit die Freiheit des Denkens wird aufgekündigt. Bei einem KMU mag das keine Rolle spielen, bei einer multinationalen Pharmafirma müsste man fragen, welche Verantwortung sie gegenüber dem Erkenntnisgewinn hat. Müsste nicht ein Teil der Gewinne aus erfolgreichen Medikamenten in ungebundene, freie Forschung fliessen? Roche hat das damals mit dem Basel Institut für Immunologie versucht – und mehrere Nobelpreisträger produziert. Auch IBM Rüschlikon hat Nobelpreisträger hervorgebracht. Falls der geplante Novartis Campus in Basel wieder Forschungsfreiheit schafft, dürfte man zumindest Daniel Vasella den Vorwurf der kurzsichtigen Programmforschung nicht machen.”
Macht Macht mit der Zeit blind?
“Ich glaube schon. Aber da haben wir ein systemisches Problem. Wer über längere Zeit Spitzenleistungen erbringt, wird Macht erlangen. Will einer heute in der Life-Science-Forschung Leistung erbringen, muss er eine kritische Masse an Know-how, an Leuten, an Geräten und an Geld haben. An all dies kommt nur heran, wer den Machtweg beschreitet. Schliesslich hat ein Forscher bloss zwei Möglichkeiten: Er forscht im stillen Kämmerlein und publiziert brav; dann hat er nichts davon, und er kann nur eine begrenzte, kleine Frage lösen. Wer aber eine umfassende Frage lösen will, muss mit vielen Leuten zusammenarbeiten, sodass Macht wieder eine Rolle spielt. Bekommt jemand in der Schweiz einen Nobelpreis, dann hat er auch wissenschaftliche Macht. Er muss nie mehr um Geld betteln. Aber er muss sich wehren, sonst sitzt er am Schluss nur noch in Verwaltungsräten.”
Was müsste in der Schweiz passieren, damit hier eine Entwicklungs- und Umsetzungsmentalität zu Stande käme?
“Man müsste mit der Erkenntnis anfangen, dass Geld nicht stinkt. Das sollte man schon in der Schule vermitteln: Es ist keine Schande, ein Geschäft zu machen. Zweitens müsste man das Sozialprestige des Entrepreneurs verbessern. Nicht nur der Denker, der Erfinder, sondern Leute, die Innovation schaffen, müssten eine adäquate Stellung bekommen. Henri Nestlé hat mit der Kondensmilch und der Pulvermilch mehr für dieses Land getan als Jeremias Gotthelf. Wir brauchen ein neues, nichtreligiöses Denkmodell für unser Leben. Es geht darum, warum wir auf der Erde sind. Sind wir da, um eine Welt zu retten, die ohnehin zu Grunde geht, oder damit es uns selber gut geht? Unsere schmerzhaftesten Probleme haben angefangen, als der Mensch in der Bronzezeit die Religion erfand, den Monotheismus. Kurz nachdem man diese blöde Idee hatte, es gäbe nur einen Gott, gab es schon drei Götter. Einen für die Muslime, einen für die Juden und einen für die Christen. Nun ist das entweder dreimal der Gleiche, oder zwei von den dreien sind falsche Götter. Die meisten kriegerischen Konflikte unserer Zeit beruhen auf dieser idiotischen Frage.”
Wie kommt es dann, dass in letzter Zeit die Religion wieder so populär wird? Der Papst ein Popstar, der Dalai Lama ein Popstar. Da besteht offenbar ein grosses Bedürfnis.
“Vielleicht ist es kein Bedürfnis, sondern anerzogene Gottesfurcht. Die grösste Population dieser Welt, die Chinesen, haben nie einen Gott gehabt. Der Dalai Lama wird zum Gott gemacht, nennt sich selber aber niemals so. Der Papst, liebevoll ‘Paparatzi’ genannt, versucht das gleiche ‘Ich-bin-der-einzig-Echte’- Spielchen wie sein Vorgänger. Wenn er ein wenig wirtschaftliche Vernunft hätte, würde er versuchen, die drei Religionen zu fusionieren; denn die müssten ganz dringend herausfinden, ob sie vom gleichen Gott reden. Sonst sind sie alle drei nicht glaubwürdig. Je nachdem, was für ein Himmel versprochen wird, kann man damit eine Nonne oder einen Selbstmordattentäter motivieren. Im Moment sieht es übrigens so aus, als ob Bush und nicht der Papst der grösste Religionsführer sei.”
So einfach können Sie die Popularität von Religionsführern nicht bestreiten. Warum suchen die Menschen das denn?
“Zugegeben, die Leute brauchen eine Hoffnung. Aber muss die Hoffnung auf einer Welt beruhen, die es gar nicht gibt? Jeder weiss, dass dieser Planet dem Untergang geweiht ist, die Gattung Mensch wird irgendwann hier weg müssen, oder wir werden aussterben. Ich würde gern wissen, wohin wir dann gehen sollen. Und wer ist in diesem Zusammenhang eigentlich ‘wir’? Gehören Affen und Pelikane auch dazu? ‘Wir’ heisst für mich die menschliche Kultur. Und das schliesst geistige Leistungen der Tiere mit ein. Sollen wir unsere Kultur irgendwohin transportieren oder unsere Körper? Man könnte sich ja auch vorstellen, dass der menschliche Geist in einer anderen Existenzform möglich wäre. Das wäre interessant, wir wären womöglich nicht so eingeschränkt durch unseren unzulänglichen Körper. Jeder Mensch träumt vom Fliegen, wie schön wäre es, in einem Wesen zu hausen, das fliegen kann.”
Was hat das mit Ihren Forschungsgebieten zu tun?
“Die Molekularbiologie tastet sich zurzeit an diese Grenze heran. Wenn ich bei Laien über Gentechnik spreche, kommt immer das Argument, Gentechnologen würden in die Schöpfung eingreifen. Als ob es je eine Schöpfung gegeben hätte! Aber es hat immer eine Evolution gegeben, nur wer will das schon wissen?”
Der Menschengeist also in einem vogelähnlichen Wesen. Und das transferieren wir dann auf einen anderen Planeten.
“Natürlich nicht! Wir sollten Geist als Geist belassen, gar nichts mehr drumherum, nur ein Programm. Wenn es den Geist wirklich gibt, dann gibt es ihn auch ohne Materie. Wenn Sie wirklich an eine menschliche Seele im religiösen Sinn glauben, dann müsste sie in den 40 Genen verborgen sein, die uns vom Menschenaffen und allen anderen Wesen unterscheiden. Es müsste dann auch möglich sein, mit diesen 40 Genen einen Pelikan zum Menschen zu machen! Das ist natürlich Unsinn. Trotzden sollten wir zur Erkenntnis kommen, dass unsere Gene nicht unantastbar sind. Wir schlucke ohne Bedenken eine Kopfwehpille. Aber wir sind nicht bereit, uns genetisch so zu verändern, dass wir gewisse Dummheiten nicht mehr machen. Wenn wir einmal verstehen, wie Hass oder Liebe entsteht, wird man diese Gefühle auch beeinflussen können. Der Tag wird kommen, an dem wir es tun, so wie wir heute bereit sind, ein Aspirin zu schlucken.”
Quelle: https://www.persoenlich.com/interview/stadler-beda-akademiker-september-2005-152188