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Ein Trostpflästerchen fürs Volk

(NZZ am Sonntag – Meinungen – 7. August 2005, Seite 12)

Wieso der Bund lieber Jodtabletten gegen Atomunfälle statt Wirkstoffe gegen die Vogelgrippe verteilt


Beda M. Stadler

Die offizielle Schweiz hat ein verwirrendes Risikoverständnis. Falls Sie, liebe Leserin, lieber Leser, im Umkreis von zwanzig Kilometern eines Kernkraftwerks wohnen, haben Sie ungefragt Jodtabletten aus der Militärapotheke erhalten. Diese Verteilung war eine Überdotation, das heisst, es wurden mehr Tabletten an Personen und Betriebe verteilt, als im Katastrophenfall benötigt werden. Und wer wusste schon, dass die Tabletten nur gegen die Spätfolgen von radioaktivem Jod schützen, gegen die Strahlung aber nutzlos sind? Die Jodtabletten haben trotzdem keine Panik ausgelöst.

Wir wissen alle, wie gefährlich die Kernenergie ist und wie sicher unsere Kernkraftwerke sind. Ob man nun eher Greenpeace oder den Behörden glaubt – ein Unfall scheint nur einmal in zehntausend bis hunderttausend Reaktorbetriebsjahren möglich. Und da man bei Greenpeace normalerweise getrost eine Potenz wegnehmen darf, wirken die Kernkraftwerke doch relativ sicher. Der staatliche Liebesdienst war also nicht überwältigend, Jodtabletten sind überdies auch nicht besonders teuer. Aber etwas gegen die Atomkraftwerke in der Hausapotheke zu haben, beruhigt eben ungemein. Die Tabletten sind ein echtes Trostpflästerchen.

Ein gänzlich anderes Risikoverständnis gilt für die Vogelgrippe. Bei der Vogelgrippe geht es nicht darum, ob etwas passiert, sondern nur darum, wann es passiert. Warum also schickt die Militärapotheke nicht allen Schweizerinnen und Schweizern eine Packung Tamiflu? – Nein, es geht mir hier nicht um Reklame für ein Präparat. Und nein, ich bin mit der Herstellerfirma weder verschwägert noch verwaltungsratet. Tamiflu ist ganz einfach eines der wenigen Medikamente, das bei der Vogelgrippe wirken würde und noch fast keine Resistenzen kennt. Anders als bei den Jodtabletten ist das Bundesamt für Gesundheit allerdings der Meinung, die Bevölkerung solle sich nicht mit Tamiflu eindecken. Eine Umfrage unter Kollegen hat indes ergeben, dass sich die meisten bereits eingedeckt haben oder daran denken, dies bald zu tun. Die Vogelgrippe wird also nächstens einen Run auf dieses Medikament auslösen. Im Katastrophenfall werden wir vor den Apotheken Schlange stehen, weil spätestens dann jeder merkt, dass nur für 25 Prozent der Bevölkerung eine Zehnerpackung vorrätig ist. Die Behörden werden der Bevölkerung den Rat geben, grössere Menschenansammlungen zu meiden und vor allem Orte, wo es infizierte Patienten haben könnte. Darüber können Sie dann – fiebrig und mit Gelenkschmerzen – in der Schlange vor der Apotheke nachdenken.

Ist es sinnvoll, eine Schachtel Medikamente, die über 80 Franken kostet, einfach so an jede Haushaltung zu verteilen? Sicher! Wie die Jodtabletten nützt Tamiflu nur wirklich, wenn es innerhalb der ersten 48 Stunden eingenommen wird. 24 Stunden werden bereits vergehen, bis jeder die Symptome erkennt, und danach würde er in einen Stau im Wartezimmer des Hausarztes geraten und dort weitere Leute anstecken. Eine Gratisverteilung würde indes eine unnütze politische Debatte auslösen und ist unwahrscheinlich. Für Bundesrat Couchepin ergäbe sich also eine einmalige Gelegenheit zur Imagepflege. Er könnte das Medikament subito aus der Rezeptpflicht nehmen. Die Lagerfähigkeit von Tamiflu wird wahrscheinlich auf fünf Jahre klettern, so dass künftig jeder, der in Eigenverantwortung Vorsorge betreibt, sogar bei der nächsten normalen Grippe profitieren könnte.

Darüber können Sie dann – fiebrig und mit Gelenkschmerzen – in der Schlange vor der Apotheke nachdenken.

Sollte es trotzdem zu einer behördlichen Gratisabgabe von Tamiflu kommen, dann bitte nur an Leute, die sich kürzlich gegen Grippe haben impfen lassen. Das unmutierte Vogelgrippevirus ist nämlich harmlos. Es mutiert nur in Menschen zur tödlichen Gefahr, die zugleich eine Grippe haben. Das sind bekanntlich Leute, die sich nicht impfen lassen. Diesen impfkritischen Eltern und Ärzten sollte man also Tamiflu teuer verrechnen, schliesslich sind sie eine Gefahr für die Öffentlichkeit, die weit über die eines Atomkraftwerks hinausgeht.

Was tun andere Länder für ihre Bürger? China soll bereits eine Impfung gegen die Vogelgrippe haben, was – nur bei Vögeln angewendet – vielleicht sogar ein Unsinn ist. In Amerika hingegen hat man reagiert. Zwei der grössten Impfstoffhersteller haben den Auftrag, einen humanen Impfstoff zu entwickeln. Wunderbar, denkt man, jetzt können wir die Hände in den Schoss legen! Weit gefehlt. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass der freie Warenverkehr für Impfstoffe rasch eingeschränkt wird. Jedes Land wird zuerst seine eigenen Leute impfen. Es gibt zwar auch bei uns Pläne, einen Impfstoff herzustellen, nur vergeht zwischen Planung und erfolgreicher Impfung der Bevölkerung im besten Fall ein Jahr. Das heisst, die ersten paar Vogelgrippewellen müssten wir mit Tamiflu überleben.

Die Biologie birgt also echte Gefahren. Am besten scheint man sie verdrängen zu können, indem man Gefahren besiegen will, die gar keine sind. So zum Beispiel am 27. November. Dann können wir über ein Moratorium «für Lebensmittel aus gentechnikfreier Landwirtschaft» abstimmen. Allerdings geht von Genfood erwiesenermassen keine Gefahr aus. Von Genfood hat noch nie jemand Kopfweh gekriegt. Es wird dagegen nie Jodtabletten oder Tamiflu brauchen. Die einzige Gefahr ist, dass sich an den Urnen ein paar Wissenschafter zu Tode lachen, weil unser Risikoverständnis so absurd ist. Übrigens, die billigsten Impfstoffe werden in Pflanzen produziert werden. Aber klar, wer will denn schon einen gentechnischen Impfstoff gegen die Vogelgrippe?


Beda M. Stadler ist Direktor des Instituts für Immunologie und Professor für Immunologie an der Universität Bern.

NZZ am Sonntag, 7. August 2005, Seite 12

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