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Hunde werden geimpft, Kinder nicht

(NZZ am Sonntag – Meinungen – 10. Juli 2005, Seite 16)

Wie sogenannte «impfkritische Ärzte» mit missionarischem Eifer die Volksgesundheit bedrohen


Beda M. Stadler

Nadeschkin alias Nadja Sieger ist Komikerin und ab und zu Kolumnistin bei der «Berner Zeitung». Sie schrieb kürzlich eine amüsante Geschichte, wie sie von einem deutschen Zollbeamten aus dem Zug genommen wurde. Ihr Hund hatte wohl einen Chip im Ohr, somit einen gültigen Reisepass, aber der Impfausweis belegte eine abgelaufene Tollwutimpfung. Die Staatsgewalt musste intervenieren, wer will noch mehr Tollwut in Deutschland? Nadeschkin hat gut argumentiert. Die Impfung sei erst kürzlich abgelaufen, und achthundert Leute warteten auf ihren Auftritt in Ulm. Es gab kein Erbarmen, Nadeschkin musste zurück auf den Perron, wo sie und der Hund einen anderen Zug nach Ulm erwischten. Deutschland hat beide überlebt.

Solche Identifikations-Chips kommen in Mode. Wer weiss, vielleicht braucht es diese Transponder einmal, damit wir nach Amerika einreisen dürfen. Was ist schliesslich würdevoller? Jedes Mal wie ein Schwerverbrecher am amerikanischen Zoll den Fingerabdruck zu hinterlassen? Oder sich einen kleinen Chip unter die Haut zu spritzen, der einen im Vorbeigehen als unbescholtenen Schweizer ausgibt? Nadeschkins Geschichte bietet sich also an, dialektisch erörtert zu werden. Hund oder Mensch impfen?

Sollen die Informationen unseres Impfbüchleins auch auf den Chip-Pass gebrannt werden? Nadeschkins Chip würde sie im Schengen-Computer eindeutig als Komikerin ausgeben. Und falls eine ihrer Impfungen abgelaufen wäre, gäbe es in Deutschland keine Schweizer Witze mehr zu hören. Das klingt absurd, aber im Fall der Tuberkulose haben wir diese Situation bereits. Einem arbeitswilligen Ausländer geht es bei uns wie Nadeschkins Hund. Eine Arbeitsbewilligung erhält nur, wer bei der grenzsanitarischen Untersuchung belegen kann, dass er keine Tuberkulose hat. Andere Länder sind ähnlich auf den Hund gekommen. In den USA musste ich bei den National Institutes of Health vor Arbeitsbeginn ebenfalls eine solche Untersuchung über mich ergehen lassen, welche prompt positiv war. Ich habe ziemlich schale Blicke erhalten, weil man in diesem Forschungszentrum die Tuberkulose meist nur bei Leuten kannte, die HIV-positiv oder von dunklerer Hautfarbe waren. Die Stationsärzte waren ausser sich, bis ich dem Chefarzt klar machen konnte, keine Tuberkulose zu haben, sondern geimpft zu sein. Da in Amerika diese Impfung fast nie gemacht wird, eine verständliche Reaktion.

Hier beginnt wohl die Verwirrung für Laien, wenn sie hören, dass man Impfungen manchmal nicht durchführt. Kein Grund zum Misstrauischwerden. Man impft nämlich nur, falls die Gefahr besteht, von einem Erreger befallen zu werden. Die älteren Jahrgänge unter den Lesern sind zum Teil noch gegen Pocken geimpft, sie haben damit heute gratis einen Anti-Terror- Schutz. Das Böse kommt vermeintlich oft von aussen, zumindest denkt unser Immunsystem so. Von aussen, so wie die Ausländer, die 2003 an die Uhrenund Schmuckmesse in Basel wollten und von den Zöllnern wie Nadeschkins Hund behandelt wurden. Sollte also noch einmal eine Sars-Welle auftreten oder gar die Vogelgrippe, wird die Diskussion über den freien Personenverkehr wieder aufflammen, diesmal nicht von der SVP.

Oder sind etwa die Zöllner schuld, dass wir bereits heute zu den Masern exportierenden Ländern gehören?

Was tun wir in der Zwischenzeit mit den subversiven Elementen, die unser Land von innen gesundheitspolitisch bedrohen, weil sie dazu raten, Kinder nicht zu impfen, bei den Hunden aber differenziert argumentieren? Werden sie von ökonomischen Überlegungen geleitet? Schliesslich sind Hunde nicht ganz billig. Ein besonders nachhaltiges Risiko sind dabei die sogenannten «impfkritischen Ärzte », die ja meist gewöhnliche Alternativmediziner sind. Mit missionarischem Eifer rufen sie seit Jahren zu einem Impfboykott auf. Ihre Kommunikation ist so gut, dass sogar eine Mehrheit der Medizinstudenten im ersten Jahr glaubt, impfen sei gefährlich. Es geht so weit, dass die meisten Mütter überzeugt sind, es komme zu einem Entwicklungssprung nach einer durchgemachten Kinderkrankheit. So etwas zu behaupten, ist zynisch, haben doch die Kinderkrankheiten wesentlich mehr Spätfolgen als die Impfungen. Bei den impfkritischen Ärzten könnte man trotzdem ein gewisses Verständnis für ihre Beweggründe aufbringen. Immerhin heilen die meisten Kinderkrankheiten von selbst, und die Ärzte können seelenruhig als Heiler am Bettrand stehen und abkassieren. Die Patienten bringen Spätfolgen meist nicht mit einer weit zurückliegenden Infektion in Zusammenhang. Anders bei einer Hepatitis-B-Infektion. Die Spätfolgen, an denen über die Hälfte der Erkrankten leiden, können bis hin zum Funktionsverlust der Leber führen. Wie kann ein irregeleiteter Patient dann seinen impfkritischen Heiler belangen? Schliesslich hat der nur einen idiotischen Rat abgegeben. Den geimpften Hund auf ihn hetzen? Entwickelt hingegen der Patient eines solchen Anti-Impf-Gurus erst Jahre später Leberkrebs, könnte der Gesundheitsapostel bereits selber tot sein.

Solange Nadeschkins Hund kein Kampfhund und nicht tollwütig ist, kann man ihn aus der Diskussion heraushalten. Aber wie soll man reagieren, wenn die Konsumentenschützer impfkritische Broschüren herausgeben, die jeglicher Wissenschaftlichkeit entbehren. Wie soll man so etwas nennen: einen tollwütigen Kampfhund ohne Leine? Schliesslich sind 1918 fast 40 Millionen Menschen an der Grippe gestorben. Oder sind etwa die Zöllner schuld, dass wir bereits heute zu den Masern exportierenden Ländern gehören? Also ein Impf-Pass-Chip wäre doch keine so schlechte Idee.


Beda M. Stadler ist Direktor des Instituts für Immunologie und Professor für Immunologie an der Universität Bern.

NZZ am Sonntag, 10. Juli 2005, Seite 16

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